Gesamtkunstwerk der AvantgardeStummfilmvertonung ● Buster Keatons The Navigator
Trio Tempo Nuovo, im Kleinen Konzertsaal des Gasteig München 2014
Buster Keatons Stummfilm The Navigator (Der Navigator / Buster Keaton, der Matrose), 1924 uraufgeführt, war Keatons erster großer Erfolg und sein Durchbruch im Filmgeschäft, der ihn in eine Reihe mit großen Namen wie Charles Chaplin und Harold Lloyd stellte. The Navigator ist bis heute ein bedeutender Klassiker der Stummfilmzeit – und wird vergleichsweise wenig gespielt. Buster Keaton gibt darin den verwöhnten Millionärssohn Rollo Treadway, der um die Hand der ebenso reichen Reederstochter Betsy anhält und von dieser zwar abgewiesen wird, aber kurzerhand dennoch seine geplante Hochzeitsreise antreten will. Nach einigen Verwicklungen und Verwechslungen finden sich nicht nur er, sondern auch Betsy auf dem Ozeanriesen „Navigator“ wieder, der führungslos und einsam auf dem Meer treibt, zunächst ohne dass Rollo und Betsy voneinander wissen. Aus dieser Ausgangslage heraus – der verwöhnte Zivilisationsmensch ist auf die Situation auf dem einsamen Passagierdampfer nicht vorbereitet und steht ihr zuerst hilflos und fremd gegenüber – entwickelt Keaton eine Geschichte voller witziger und skurriler Einfälle und bisweilen surrealer und phantastischer Elemente, die im Realen wurzeln. Rollo, der von Keaton mit dem ihm eigenen stoischen Pragmatismus gespielt wird, richtet sich nach zahlreichen Kämpfen mit der berühmten Tücke der Objekte gemeinsam mit Betsy allmählich recht komfortabel ein, bis das Schiff auf Grund läuft und von einer Horde Menschenfresser angegriffen wird. Am Schluss scheint das Paar im Meer zu versinken – und wird auf unerwartete Weise gerettet.
The Navigator ist mit seiner präzisen Taktung von Bewegungsabläufen und der Montage selbst ein hochgradig musikalisch komponierter Film: das Ballett der Dinge, die sich im rhythmischen Schaukeln des Schiffs bewegen, das rhythmische Auf- und Zuschlagen der Kabinentüren, die Choreographie der Abläufe und das Prinzip von Wiederholung und Variation, etwa als Betsy und Rollo zu Beginn auf dem Schiff Spuren der Anwesenheit des jeweils anderen finden und sich nach einer Verfolgungsjagd (oder doch eher einer Art Hide- and Seek-Spiel?) schließlich finden. Das Trio Tempo Nuovo mit Stephan Lanius (Kontrabass), Thomas Hüther (Flöte und Percussion) und Hans Wolf (Klavier) hat für The Navigator eine Musik komponiert, die all dies - die Musikalität, den Witz, das Tempo des Films - sehr präzise aufgreift, begleitet und kommentiert. Die Musik gewinnt eine eigenständige Rolle und Bedeutung. Was dabei entsteht, ist nicht weniger als ein „Stummfilm-Gesamtkunstwerk“ (um einen gängigen Begriff der Filmdebatten der 1920er Jahre aufzugreifen). Für die Rezeption insbesondere des Stummfilms ist die Musik nicht zu unterschätzen: sie hat deutende Funktion, kann die Aufmerksamkeit steuern, sich betonend, kontrapunktisch, paraphrasierend zur Bildebene verhalten. Diese Bedeutung wird mehr und mehr wiederentdeckt. Musikalische Kompositionen für Stummfilme erleben vor allem seit den 1990er Jahren eine Renaissance; überlieferte, eigens geschriebene originale Filmkompositionen gibt es nur für sehr wenige Filme. Von der Gefahr, Musik für den Stummfilm auf eine bloß untermalend-illustrierende Funktion zu reduzieren, ist das Trio Tempo Nuovo Lichtjahre entfernt. Zum einen selbst gewissermaßen ‚Navigator‘ durch den Film, ist es ihm zum anderen in der musikalischen Performance ein kongenialer und innovativer Partner.
Die drei bestens aufeinander einspielten Musiker geben sich dabei auch gegenseitig die ‚Stichworte‘, nehmen Themen der jeweils anderen auf und variieren sie. Mit ihrem Stilpluralismus, dem Aufgreifen unterschiedlicher musikalischer Stilrichtungen und deren Verfremdung , mit der Einbeziehung verschiedener Klangquellen, der Verwendung musikalischer Zitate, mit ihrer Improvisations- und Experimentierfreude, mit der Erweiterung des Klangspektrums der Instrumente, den Techniken der rhythmischen Verschiebungen, Wiederholung und überraschender Variation knüpfen sie an die Innovationen der musikalischen Avantgarde in den 1920er Jahren an, die sie gleichzeitig erneuern und überschreiten. Das ist hinreißend gut gemacht, und begeistert entsprechend das Publikum, das schon im Vorprogramm mit The Great Train Robbery (Der große Eisenbahnraub, 1903) von Edwin S. Porter, einer weiteren Perle der Filmgeschichte, entsprechend eingestimmt wurde. Gerne mehr davon!14.10.2014 - Christina Scherer, Journalistin - München
Stummfilmvertonung ● Buster Keatons The Navigator
Trio Tempo Nuovo, im Kleinen Konzertsaal des Gasteig München 2014
Buster Keatons Stummfilm The Navigator (Der Navigator / Buster Keaton, der Matrose), 1924 uraufgeführt, war Keatons erster großer Erfolg und sein Durchbruch im Filmgeschäft, der ihn in eine Reihe mit großen Namen wie Charles Chaplin und Harold Lloyd stellte. The Navigator ist bis heute ein bedeutender Klassiker der Stummfilmzeit – und wird vergleichsweise wenig gespielt. Buster Keaton gibt darin den verwöhnten Millionärssohn Rollo Treadway, der um die Hand der ebenso reichen Reederstochter Betsy anhält und von dieser zwar abgewiesen wird, aber kurzerhand dennoch seine geplante Hochzeitsreise antreten will. Nach einigen Verwicklungen und Verwechslungen finden sich nicht nur er, sondern auch Betsy auf dem Ozeanriesen „Navigator“ wieder, der führungslos und einsam auf dem Meer treibt, zunächst ohne dass Rollo und Betsy voneinander wissen. Aus dieser Ausgangslage heraus – der verwöhnte Zivilisationsmensch ist auf die Situation auf dem einsamen Passagierdampfer nicht vorbereitet und steht ihr zuerst hilflos und fremd gegenüber – entwickelt Keaton eine Geschichte voller witziger und skurriler Einfälle und bisweilen surrealer und phantastischer Elemente, die im Realen wurzeln. Rollo, der von Keaton mit dem ihm eigenen stoischen Pragmatismus gespielt wird, richtet sich nach zahlreichen Kämpfen mit der berühmten Tücke der Objekte gemeinsam mit Betsy allmählich recht komfortabel ein, bis das Schiff auf Grund läuft und von einer Horde Menschenfresser angegriffen wird. Am Schluss scheint das Paar im Meer zu versinken – und wird auf unerwartete Weise gerettet.
The Navigator ist mit seiner präzisen Taktung von Bewegungsabläufen und der Montage selbst ein hochgradig musikalisch komponierter Film: das Ballett der Dinge, die sich im rhythmischen Schaukeln des Schiffs bewegen, das rhythmische Auf- und Zuschlagen der Kabinentüren, die Choreographie der Abläufe und das Prinzip von Wiederholung und Variation, etwa als Betsy und Rollo zu Beginn auf dem Schiff Spuren der Anwesenheit des jeweils anderen finden und sich nach einer Verfolgungsjagd (oder doch eher einer Art Hide- and Seek-Spiel?) schließlich finden. Das Trio Tempo Nuovo mit Stephan Lanius (Kontrabass), Thomas Hüther (Flöte und Percussion) und Hans Wolf (Klavier) hat für The Navigator eine Musik komponiert, die all dies - die Musikalität, den Witz, das Tempo des Films - sehr präzise aufgreift, begleitet und kommentiert. Die Musik gewinnt eine eigenständige Rolle und Bedeutung. Was dabei entsteht, ist nicht weniger als ein „Stummfilm-Gesamtkunstwerk“ (um einen gängigen Begriff der Filmdebatten der 1920er Jahre aufzugreifen). Für die Rezeption insbesondere des Stummfilms ist die Musik nicht zu unterschätzen: sie hat deutende Funktion, kann die Aufmerksamkeit steuern, sich betonend, kontrapunktisch, paraphrasierend zur Bildebene verhalten. Diese Bedeutung wird mehr und mehr wiederentdeckt. Musikalische Kompositionen für Stummfilme erleben vor allem seit den 1990er Jahren eine Renaissance; überlieferte, eigens geschriebene originale Filmkompositionen gibt es nur für sehr wenige Filme. Von der Gefahr, Musik für den Stummfilm auf eine bloß untermalend-illustrierende Funktion zu reduzieren, ist das Trio Tempo Nuovo Lichtjahre entfernt. Zum einen selbst gewissermaßen ‚Navigator‘ durch den Film, ist es ihm zum anderen in der musikalischen Performance ein kongenialer und innovativer Partner.
Die drei bestens aufeinander einspielten Musiker geben sich dabei auch gegenseitig die ‚Stichworte‘, nehmen Themen der jeweils anderen auf und variieren sie. Mit ihrem Stilpluralismus, dem Aufgreifen unterschiedlicher musikalischer Stilrichtungen und deren Verfremdung , mit der Einbeziehung verschiedener Klangquellen, der Verwendung musikalischer Zitate, mit ihrer Improvisations- und Experimentierfreude, mit der Erweiterung des Klangspektrums der Instrumente, den Techniken der rhythmischen Verschiebungen, Wiederholung und überraschender Variation knüpfen sie an die Innovationen der musikalischen Avantgarde in den 1920er Jahren an, die sie gleichzeitig erneuern und überschreiten. Das ist hinreißend gut gemacht, und begeistert entsprechend das Publikum, das schon im Vorprogramm mit The Great Train Robbery (Der große Eisenbahnraub, 1903) von Edwin S. Porter, einer weiteren Perle der Filmgeschichte, entsprechend eingestimmt wurde. Gerne mehr davon!
14.10.2014 - Christina Scherer, Journalistin - München